Führung

Demut als Führungskompetenz

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Der Organisationsberater und Buchautor Sebastian Purps-Pardigol nutzt die Erkenntnisse der modernen Gehirnforschung, um die Kulturen von Unternehmen zu verbessern. Das Ergebnis: Die Potenziale der Mitarbeitenden lassen sich besser heben, Organisationen werden leistungsfähiger und erfolgreicher. Im Interview erklärt er den Weg dahin.

Demut bedeutet, die eigenen Fehler und Begrenzungen offen eingestehen zu können und darüber zu sprechen.

Herr Purps-Pardigol, die Potenziale der Beschäftigten umfassend zu heben und damit auch an mehr und andere Fähigkeiten zu gelangen, als an jene, die für das Erledigen von bestehenden, gewohnten Aufgaben gebraucht werden, wäre für Unternehmen ja eigentlich zu allen Zeiten zielführend. Zurzeit ist es aber besonders dringend, oder?

Tatsächlich beschäftigen sich derzeit immer mehr Unternehmen mit dieser Frage. Die Triebfeder dafür ist die digitale Transformation der Wirtschaft. Um diese meistern zu können, müssen Firmen sich mit der eigenen Unternehmenskultur auseinander setzen. Sie brauchen eine Kultur, in der Einzelne und Teams noch mehr der in ihnen liegenden Potenziale entfalten können. Alexander Birken, CEO der Otto Group, ist einer von vielen Protagonisten, die ich getroffen habe. Er erzählte mir: „Den technischen Teil der digitalen Transformation bekommen wir schon irgendwie gelöst, darum mache ich mir keine Sorgen. Herausfordernder ist der menschliche, der kulturelle Teil.“ Das bestätigte sich in den Hunderten von Gesprächen, die ich in den letzten Jahren mit Menschen geführt habe, deren Unternehmen die digitale Transformation gut meistern. Es gibt natürlich auch Unternehmen, die sich ausschließlich um eine kulturelle Veränderung kümmern – das ist selbstverständlich auch ohne Digitalisierung sinnvoll. Die digitale Transformation hingegen gelingt nicht ohne einen kulturellen Wandel. Wer sich nicht wandelt, wird an der Digitalisierung scheitern. Ich finde den Begriff „Digitale Transformation“ daher auch nicht ideal passend –besser wäre „eine durch die Digitalisierung getriebene kulturelle Transformation“.

Denn für die digitale Transformation brauchen Unternehmen eben ganz andere Talente und Fähigkeiten bei ihren Beschäftigten als bisher?

Durch die digitale Transformation verändert sich die Zusammenarbeit der Menschen grundlegend: Das klassische Hierarchiedenken wird auf den Prüfstand gestellt. Manche Unternehmen verändern das Rollenverständnis von Führungskräften wie beispielsweise die Swisscom, als sie das neue Blockbuster-Produkt „Swisscom TV 2.0“ entwickelt hat: Die Chefs haben alle Produktentscheidungen den Mitarbeitenden überlassen und die Genehmigungsprozesse abgeschafft. Oder der ehemalige Vorstandschef des Fotodienstleisters CEWE – er hat demütig wichtige Entscheidungen zu dem neuen Fotobuch-Produkt seinen Mitarbeitenden überlassen, obwohl er anderer Meinung war als sie. Die Otto Group hat sich dafür entschieden, die Hierarchien bestehen zu lassen, sie jedoch „durchlässiger“ zu machen. Braucht es andere Talente und Fähigkeiten bei den Beschäftigten, fragten Sie … ja und nein: Natürlich braucht man an manchen Stellen Menschen, die etwas neu erlernen – gerade, wenn es um etwas Fachliches geht. Viel mehr braucht man jedoch etwas, das jeder Mensch in sich trägt: die Kreativität und eine gemeinsame Lösungsfindung. Um Zugriff darauf zu erhalten, benötigen wir Chefs, die anders führen!

Sie gehen davon aus, dass die Mitarbeitenden viele Fähigkeiten grundsätzlich schon haben, sie in den bestehenden Unternehmenskulturen aber nicht brauchen, also auch nicht abrufen?

Ja – in der Vergangenheit war es ja oft so, dass die Chefs wussten, was zu tun ist und die Mitarbeitenden gerne als „ausführendes Organ“ ansahen. Wenn ein Chef nicht weiter wusste, dann holte es sich Unternehmensberater, die entwickelten dann eine neue Strategie und die musste von der Belegschaft umgesetzt werden. So wird das in Zukunft nicht mehr funktionieren. Für viele Fragen finden weder die Chefs und auch keine schlauen Berater mehr die passenden Antworten. Die Familie Otto hat sich beispielsweise dazu entschieden, auf die Mitarbeitenden zu setzen, um wieder aus den roten Zahlen zu kommen. Manche der heutigen neuen Produkte, wie beispielsweise das Mietmodell OTTO NOW, wurde von Mitarbeitenden entwickelt. Wenn man als Chef jedoch nicht die Rahmenbedingungen schafft, in denen Mitarbeitende sich einbringen können, dann liegt eine Menge Potenzial brach.

Wie können Unternehmen diese Fähigkeiten erschließen? Sie arbeiten ja mit dem Gehirnforscher Gerald Hüther zusammen und greifen auf Erkenntnisse der Hirnforschung zurück.

Es gibt zum einen zwei neurobiologische Grundbedürfnisse, die wir in uns tragen. Das ist erstens das Bedürfnis nach Verbundenheit. Wenn das fehlt, reagiert das Gehirn darauf so, als würde es körperlichen Schmerz wahrnehmen. Meine Aufgabe als Chef ist es also, darauf zu achten, wie es gelingt, dass meine Mitarbeitenden sich zueinander und innerhalb des Unternehmens bestmöglich verbunden zueinander fühlen. Da helfen manchmal so einfache und doch sehr effektive Methoden wie das Einführen einer echten, gelebten Feedbackkultur. Das zweite Bedürfnis ist das Mitgestalten-Können. Das lässt sich ganz wunderbar ermöglichen, indem Chefs aufhören, alle Entscheidungen selbst zu treffen und beginnen, die Mitarbeitenden mit einzubeziehen. Das gerade benannte Beispiel mit der Swisscom zeigt sehr konkret, was ich damit meine und was dadurch möglich ist. Was darüber hinaus noch wichtig ist: Mitarbeitende brauchen starke innere Bilder, an denen sich ihr eigenes Handeln ableitet. Die wiederum können Führungskräfte sehr gut beeinflussen, indem sie sich ihrer Rolle als Vorbild bewusst werden, indem sie viel über die Sinnhaftigkeit des Wandels reden und indem sie die Mitarbeitenden für das bisher erreichte wertschätzten – wir können inzwischen wissenschaftlich nachweisen, dass sich die Motivation gerade durch die Wertschätzung um 300 Prozent erhöht.

Was ist in diesem Ansatz der ganz spezifische Erkenntnisbeitrag der Gehirnforschung?

Direkt hinter der Stirn befindet sich ein ganz besonderer Teil unseres Gehirns: der präfrontale Cortex. In ihm sind die sogenannten Exekutivfunktionen verborgen: unsere höheren geistigen Leistungen. Dazu gehören Kreativität, vorausschauende Handlungsplanung, Empathie, Impulskontrolle oder Priorisierung. Damit der Kulturwandel gelingt, müssen die Mitarbeitenden aber auch genau auf diesen Teil des Gehirns zugreifen. Mit dem tradierten kulturellen Verhalten vieler Chefs wird es jedoch kaum gelingen, diesen Bereich in den Gehirnen der Mitarbeitenden zu erreichen. In physikalischen Systemen, beispielsweise in einer Dampfmaschine, führt mehr Druck zu mehr Leistung. In biologischen Systemen, und Menschen sind biologische Systeme, führt mehr Druck dagegen eher zu Minderleistung oder sogar zu Totalausfall. Mit Verbundenheit, Mitgestaltung und starken inneren Bildern lässt sich die Tür zum präfrontalen Cortex hingegen öffnen.

Wenn Sie die Betriebsbrille aufsetzen – in welche praktischen Maßnahmen lässt sich Ihr Ansatz übersetzen?

Entscheidungs-, und Entwicklungsprozesse für neue Produkte und Dienstleistungen sollten sich verändern: Es braucht andere Formate der Zusammenarbeit wie beispielsweise Design-Thinking-Ansätze. Die Hamburger Hochbahn oder Viessmann sind dafür wunderbare Beispiele. In der betrieblichen Gesundheitsförderung empfehle ich immer den Ansatz von Achtsamkeits-Workshops. Das ist kein esoterisches Chi-Chi, sondern Unternehmen wie Google oder SAP arbeiten damit und erreichen phantastische Ergebnisse. Das amerikanische Unternehmen Aetna hat tausende von Mitarbeitenden an Achtsamkeitstrainings teilnehmen lassen und einen Produktivitätsgewinn von über 30 Millionen Dollar erreicht. Themen wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder eine väterfreundliche Personalpolitik mag ich kaum nennen, weil ich sie für selbstverständlich halte: Wenn ich mich als Mitarbeitender zerrissen fühle zwischen Arbeit und Privatleben, erhöht das meine neuronale Erregung und verringert den Zugriff auf den präfrontalen Cortex. Doch reicht es nicht, einfach nur Maßnahmen umzusetzen. Es braucht eine Änderung der Haltung und des eigenen Rollenbildes von Führungskräften, damit die Mitarbeitenden dem Unternehmen glauben, damit die Angebote als authentisch wahrgenommen werden.

Die Treiber des Wandels sind demnach die Führungskräfte?

Sicherlich hängt viel von der Führungsebene ab. Sie muss Selbstreflexion betreiben, sich und ihr bisheriges Führungsverhalten in Frage stellen und den Mitarbeitenden die Erlaubnis geben, sich neu und anders als bisher einzubringen. Das stellt vor allem das mittlere Management, das in Zukunft gegebenenfalls weniger entscheidet, weniger vorgeben kann als bisher, vor Herausforderungen, es muss seine Rollendefinition ändern. Der Wirtschaft ist die Selbstreflexion nicht in die Wiege gelegt ... Ich plädiere daher nicht nur für Führen mit Hirn – sondern auch mit Demut.

Führen mit Demut – das klingt eher religiös denn wirtschaftlich. Definieren Sie uns Demut doch bitte.

Demut bedeutet, die eigenen Fehler und Begrenzungen offen eingestehen zu können und darüber zu sprechen. Das ist übrigens das bessere Rollenvorbild für Mitarbeitende als der Superchef, der immer alles weiß – gerade in schwierigen Veränderungsphasen. Demut bedeutet zudem, die Stärken der Teammitglieder zu kennen und zu kommunizieren. Und nicht zuletzt heißt es, Sichtweisen zu hinterfragen und neue anzunehmen. Demut ist also ein guter Hebel für die neue Unternehmenskultur. Die Wissenschaft zeigt uns: Demütige Führungskräfte haben loyalere Teams, die überdurchschnittliche Leistungen erbringen.

Die Unternehmen, die die neue Unternehmenskultur bereits leben – was haben sie außer den bereits genannten Vorteilen davon?

Sie stellen fest, dass die Geschäftszahlen sich verbessern, die Mitarbeitenden motivierter sind, Fluktuation und Krankenstand sinken, sie dem Fachkräftemangel besser begegnen können, weil sie leichter neue Mitarbeiter finden oder bestehende binden, dass sie kreativer und innovativer werden. Die Ergebnisse des Kulturwandels und der Potenzialsteigerung sind also messbar. Auf unserer Homepage www.kulturwandel.org können Interessierte viele Beispiele nachlesen.

Zur Person

Sebastian Purps-Pardigol

machte sich 2008 in Hannover als Führungskräftecoach und Organisationsberater selbstständig. Er arbeitet zu den Themen Hirnforschung, Führung und Kulturwandel. Durch die Freundschaft mit dem Göttinger Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther begann Purps-Pardigol die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung für die Organisationsberatung und Managementtrainings zu nutzen. Unter anderem veröffentlichte er die Bücher „Führen mit Hirn“ und „Digitalisieren mit Hirn“. Zudem gründeten er und Hüther im Jahr 2010 gemeinsam die Non-Profit-Initiative „Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen“.