Seit Corona gilt aber das deutsche Gesundheitssystem als Vorbild.
Wir müssen das differenziert betrachten. Deutschland hat ein gutes Gesundheitssystem, jedes Jahr fließen allein ca. 100 Milliarden zur Finanzierung der stationären Versorgung unserer Patienten in die Krankenhäuser. Aber Corona hat auch einige Schwächen offenbart. Medizinische Masken waren z.B. plötzlich knapp in Deutschland, weil wir alles auf Kante genäht haben. Wenn dann China keine Masken mehr liefert, weil in Wuhan Corona tobt, haben wir hier ein Riesen-Problem.
Was läuft denn schief in unserem Gesundheitssystem?
Wir orientieren uns zu stark an Prinzipien der Profitabilität und Effizienz und verlieren dabei den Blick auf den kranken Menschen immer mehr aus dem Blick. In der Folge wurde in unserem Gesundheitssystem massiver Raubbau betrieben, insbesondere dort, wo Menschlichkeit gefragt ist und weniger Maschinen zum Einsatz kommen. Andererseits leisten wir uns Fehlallokation von Ressourcen in einem Umfang, den ich als besorgniserregend empfinde. Und es gibt enorme Fehlanreize für diagnostische und therapeutische Eingriffe, die nicht in erster Linie dem Patienten, sondern dem System nützen.
Wir sparen hart und verschwenden gleichzeitig Geld. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Wir haben nicht mehr Herzkranke und Herzinfarkte als Schweden, Frankreich oder die Schweiz. Trotzdem macht Deutschland so viele Herzkatheter-Untersuchungen wie kein anderes Land der Welt. Dafür gibt es keinen ärztlichen Grund. Das tut den Patienten nicht gut, das hilft nur dem Budget des Arztes oder des Krankenhauses. Wenn wir diese Fehlanreize abschafften, hätten wir genug Geld im System. Wir könnten dann auch denen helfen, die momentan die Waisen der Medizin sind: Kinder mit seltenen Erkrankungen.
Warum lassen wir kranke Kinder im Stich?
Die Therapie seltener Kinder-Erkrankungen ist sehr teuer und personalintensiv. Das wird nicht mehr ausreichend finanziert. Kranke Kinder haben aber nach meiner Überzeugung ein Recht auf bestmögliche medizinische Versorgung, so legt es auch die UN-Kinderrechtskonvention fest. Es gibt viele Hinweise darauf, dass wir in Deutschland hier großen Nachholbedarf haben. Ich finde das beschämend.
Warum decken Krankenhäuser diesen Bedarf nicht ab?
Medizin für Kinder ist etwas ganz anderes als für Erwachsene. Unser Dr. von Haunersches Kinderspital im Herzen Münchens gibt es seit 1846. Wir sind nicht zufällig eine der ältesten Kinderkliniken der Welt. Heute haben wir hier Spezialisten für Krebs, Epilepsien, Leber- und Muskelerkrankungen und viele weitere Erkrankungen. Bei Kindern verlaufen diese Krankheiten anders als bei Erwachsenen. Jeder Arzt weiß das, nur fehlt uns für eine hochspezialisierte und dennoch ganzheitliche und altersgerechte Medizin zunehmend das Geld.
Wieso unternimmt die Regierung nichts dagegen?
Es gibt Umfragen im Auftrag der Bundesregierung, in denen 95 Prozent der Eltern sich sehr zufrieden über den Gesundheitszustand ihrer Kinder äußern. Das ist sicher auch ein großartiger Erfolg der Kindermedizin. Daraus wird aber gefolgert: Es ist alles super, aber das ist falsch. Das Problem sind die anderen 5 Prozent. Das sind Kinder mit chronischen, komplexen und seltenen Erkrankungen. Die werden vergessen.
Hat man bewusst auf Kosten der Kinder gespart?
Ja. Es gab im Prozess der Konsolidierung der Krankenhauslandschaft einen überproportionalen Abbau von Betten für kranke Kinder. Das entspricht betriebswirtschaftlicher Logik, widerspricht aber klar dem, was kranke Kinder brauchen. Mit der Meinung stehe ich nicht alleine. Hier besteht eine Allianz aller deutschen Universitätskinderkliniken.
Wie wollen Sie das Kostenargument entkräften?
Das hat der amerikanische Nobelpreisträger James Heckman schon vor 20 Jahren getan. Er und sein Team haben gezeigt, dass nichts mehr Rendite bringt als ein Investment in die Gesundheit und Bildung von Kindern. Das Problem ist nur: diese Rendite kommt erst nach 20 bis 30 Jahren. So weitsichtig denkt keiner mehr.