31.03.2022 - Altötting-Mühldorf

Energiekrise: "Es sieht düster aus"

Regionalausschuss Altötting - Mühldorf
© Martin Armbruster

Energiekrise und Planungschaos bei der Bahnstrecke München – Mühldorf - Freilassing: IHK-Regionalausschuss bangt um die Chemieindustrie Südostbayerns.

„Die Welt könnte endlich mal wieder normal werden“, sagte eine Unternehmerin vor der Veranstaltung. Das war der Wunsch des Tages. Er wird sich vorerst kaum erfüllen. Das machte die Sitzung des IHK-Regionalausschusses Altötting-Mühldorf am 28. März 2022 im Restaurant Kantine in Töging sehr deutlich.

Die Ausschuss-Vorsitzende Ingrid Obermeier-Osl beschrieb das, worüber sich am gleichen Tag in Berlin Bundesministerin Svenja Schulze (SPD) beklagte – eine noch nie dagewesene Häufung von Krisen. Obermeier-Osl sagte, wer geglaubt habe, mit der Pandemie sei das Schlimmste schon überstanden, habe sich fundamental geirrt. Mit dem Krieg in der Ukraine habe für die Wirtschaft Südostbayerns eine neue Zeitrechnung begonnen.

Und auch aus Corona sei man nur „halb heraus“. Was Obermeier-Osl und einige Ausschuss-Mitglieder kritisierten, sind Quarantäne-Regeln, die nicht dem Pandemie-Verlauf entsprechen - hohe Infektionszahlen bei milden Krankheitsverläufen.

Jeder Positiv-Test bedeute auch für symptomfreie Mitarbeiter eine Auszeit von mindestens sieben Tagen. Das führt in den Unternehmen zu einem Personalschwund von 20 bis 30 Prozent. In Extremfällen ist die Hälfte der Belegschaft krank oder in Quarantäne. Produktionsausfälle sind dann unvermeidlich. „Es wird Zeit, dass die Politik wieder etwas für die Wirtschaft tut“, sagte Obermeier-Osl.

Aber Corona gehört in diesen Tagen zu den Problemen der leichteren Art. Nun ist es der Ukraine-Krieg, der in der Wirtschaft Schockwellen auslöst - mit rapide steigenden Sprit-, Strom- und Rohstoffpreisen, mit Lieferengpässen und unkalkulierbaren Risiken für die Versorgungssicherheit.

Bayern hat früher Strom exportiert

Die Energiepolitik stand folglich im Mittelpunkt der Sitzung. Dafür hatte das Team um Herbert Prost, dem Leiter der IHK-Geschäftsstelle Mühldorf, das Wasserkraftwerk der österreichischen VERBUND AG in Töging als Location ausgewählt. Seit Ende 2018 ist das Projekt im Bau.

Der Rundgang durch das 250 Millionen Euro teure Kraftwerk machte Hoffnung. Es ist das größte Wasserkraftprojekt Deutschlands und ein Schritt Richtung Zukunft. Um die muss die Region kämpfen – das betonte Bernhard Langhammer, Sprecher der Initiative ChemDelta Bavaria. Sein Vortrag war eher ein Krisenbericht. Langhammer erinnerte daran, dass der Standort Töging die Aluminium-Industrie schon verloren habe. Langhammer warnte vor einem Strukturwandel wie im Ruhrgebiet, sollte die Politik jetzt nicht entschlossen eingreifen.

Seinen Worten zufolge gefährdet das Zusammenwirken mehrerer Probleme den Bestand des sogenannten Chemiedreiecks, einem der wichtigsten Industriestandorte Bayerns mit rund 50.000 Arbeitsplätzen. Problem Nr. 1 ist der Strombedarf. Die Chemieunternehmen Südostbayerns stehen für acht Prozent des gesamten Stromverbrauchs Bayerns.

Bayern hat einst Strom exportiert. Seit dem Ausstieg aus der Kernkraft muss Bayern ein Drittel seines Strombedarfs importieren. Die Kosten der Stromimporte sind explodiert. Sie lagen im Februar 2022 um rund 125 Prozent über dem Preis des Vergleichsmonats im Vorjahr. Hinzukommt die russische Drohung, dem Westen den Gashahn abzudrehen. „Dann steht BASF still“, warnte Langhammer. Die Folgen für die Lieferketten wären dramatisch und wären auch in Trostberg und Burghausen und Burgkirchen zu spüren. Die Chemiegewerkschaft IG BCE befürchtet, ein russischer Stopp der Gasexporte würde Deutschland „sehr schnell“ 100.000 Arbeitsplätze kosten.

Ziel: Klimaneutralität

Tobias Heiserer, Werksleiter
© Martin Armbruster Werksleiter Tobias Heiserer führte den Regionalausschuss durch das Wasserkraftwerk.

Über allem schwebt das große Ziel Klimaneutralität. Langhammer sagte, technisch sei das für die chemische Industrie machbar, es erfordere nur Unmengen an zusätzlichem Strom. Der Bedarf der Chemie-Branche würde sich bundesweit verzehnfachen. Um allein den Flughafen München mit grünem Strom zu versorgen, müsste man mehr als die komplette Fläche des Landkreises Altötting mit Photovoltaik zupflastern.

Selbst wenn es gelänge, sagte der Chemie-Sprecher Langhammer weiter, mehr als 1.000 Windräder in Bayern fristgerecht hinzustellen, fehle es an den nötigen Leitungen und Speichern. Weil der Netzausbau stocke, drohe Deutschland die Teilung in zwei Strompreiszonen. Dann müssten ausgerechnet die Unternehmen im wirtschaftlich starken Süden noch mehr für den Strom bezahlen.

„Ich kann kein schlüssiges Konzept erkennen, wie das funktionieren soll“, sagte Langhammer. Als bedrohlich wertete er das Beispiel Northvolt: Der schwedische VW-Partner plant eine Riesen-Batteriezellfabrik im strukturschwachen Schleswig-Holstein. Dort gibt es viel grünen Windstrom. „Wir sind der Verlierer der Klimapolitik“, meinte der Chemie-Experte.

Bahnstrecke München-Freilassing kommt nicht voran

Was der Chemieindustrie das Leben sicher nicht leichter macht, ist der Rückschlag für die geplante Bahnstrecke Strecke München–Mühldorf–Freilassing, die sogenannte ABS 38. Dafür gab es ein fixes Ziel: zweigleisig und elektrifiziert bis 2030.

Per Video zugeschaltet, hatte Klaus-Peter Zellmer, Großprojektleiter bei der DB Netze, die Aufgabe, dem Ausschuss zu erklären, was nicht zu verstehen ist: dass ein fristgerechter Ausbau ausgerechnet an einem Gesetz scheitert, das Planungsprozesse beschleunigen soll. Nun, Zellmer gab sich Mühe.

Demnach durchlief die ABS 38 bislang das übliche Planfeststellungsverfahren. Da wurden Fortschritte erzielt. „So nah dran waren wir nie“, versicherte Zellmer. Dann trat 2020 das Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz in Kraft. Womit Südostbayern nun wirklich Pech hatte: Das Gesetz wurde mit einer Liste von 12 Projekten unterfüttert, die beschleunigt werden sollen. Ganz oben steht die ABS 38.

Was folgte, ist eine Perle deutscher Genehmigungs- und Planungskunst. Zellmer und sein Chef Klaus-Dieter Josel, der Konzernbevollmächtigte der Bahn in Bayern, haben vergeblich versucht, die ABS 38 vor der gesetzlichen Beschleunigung zu retten. Faktisch werden nun noch einmal alle Planungsschritte wiederholt, die man schon gemacht hatte. Bremsend wirkt ferner, dass in die Planung zusätzlich eine Eisenbahnbrücke bei der Gemeinde Weidenbach aufgenommen werden muss. Kurz: Der Zeitplan ist futsch.

Die Ausschussvorsitzende Obermeier-Osl fragte Zellmer mehrmals, wann denn genau mit der Fertigstellung der Bahnstrecke zu rechnen sei. Der Bahn-Sprecher wand sich. Zellmer sagte, das Ganze verschiebe sich um mehr als ein oder zwei Jahre. Den Frust der Region könne er verstehen. Alle Argumente würden für das Projekt sprechen.

Über beide Themen wurde intensiv diskutiert. „Deutschland will in 18 Jahren klimaneutral sein. Schafft es aber nicht, in 10 Jahren eine Bahnstrecke auszubauen“, sagte Langhammer. Christoph Oechsner sprach von einem „Déjà Vu“ – seit Jahren mache er immer die gleiche Erfahrung: Stillstand. Es bewege sich nichts im Land. Florian Loserth, stellvertretender Ausschussvorsitzender, kritisierte, die Politik fahre nur auf Sicht. Sie reagiere nur dann, wenn es brenne. Robert Martin äußerte sich genervt über das „streng bürokratische“ Planungsverfahren der Schienenstrecke. Solche Prozesse seien „aus der Zeit gefallen“.

Martin und IHK-Referent Korbinian Leitner stellten fest, es gebe in Deutschland zwei Geschwindigkeiten. Das Tempo, mit dem Tesla in Brandenburg ein Werk errichte und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) binnen weniger Tage die Energiepolitik auf den Kopf stellt. Und das Tempo der Bahn. Obermeier-Osl fasste die Gesamtlage mit dem Satz zusammen: „Es sieht düster aus.“ Die große Frage sei, was könne man tun? Der Ausschuss verabschiedete einstimmig einen Beschluss, der den zügigen Ausbau der ABS 38 fordert. Adressaten sind Bundestag, Deutsche Bahn und Bundesverkehrsministerium. Damit will sich die Vorsitzende aber nicht begnügen. Aus ihrer Sicht steht zu viel auf dem Spiel. Die Bahnstrecke könnte ganz kippen, die Chemie-Unternehmen aus der Region abziehen. Dann hätten auch Handel und Dienstleistung ein großes Problem. Obermeier-Osl schlug vor, politische Entscheidungsträger zu einem Austausch in die kommende Sommersitzung des IHK-Regionalausschusses einzuladen.

Das wurde von den Unternehmern begrüßt. Christoph Oechsner meinte, wenn man etwas verändern wolle, müsse man Druck auf die Politik ausüben. Das gehöre zur Demokratie. Robert Martin schlug vor, sich direkt an Bundesminister Habeck zu wenden. Der packe die Dinge an. Bernhard Langhammer erklärte, seine Initiative ChemDelta Bavaria arbeite daran, Habeck in die Region zu holen. Sollte der grüne Bundesminister einen Termin zusagen, werde man den IHK-Ausschuss gerne dazu einladen. Schließlich arbeite man für das gleiche Ziel: den wirtschaftlichen Absturz verhindern.

Initiativen des Regionalausschusses Altötting - Mühldorf

Dem beugt der Ausschuss mit eigenen Initiativen vor. Etwa mit dem Arbeitskreis Energie, über dessen Aktivitäten Herbert Prost einen Überblick gab. So will man Mitgliedsbetriebe der IHK mit einem Konzeptpapier unterstützen, die Herausforderungen der Energiewende zu meistern.

Oechsner berichtete für den Arbeitskreis Fachkräfte, man arbeite gemeinsam mit den beiden Landkreisen daran, ein Marketing-Konzept für die Region zu erstellen mit dem Ziel, Arbeitskräfte und junge Familien für die Region zu gewinnen.

Auch ein besseres „Matching“ mit der Arbeitsagentur soll der regionalen Wirtschaft mehr Arbeitskräfte bringen. Obermeier-Osl verwies in dem Zusammenhang darauf, dass Flüchtlinge aus der Ukraine sofort arbeiten dürften.

Das Thema Cyber-Sicherheit sei mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs wichtiger denn je, sagte Andreas Bublak, Leiter des Arbeitskreises Digitalisierung. Eine Info-Veranstaltung mit 45 Teilnehmern habe gezeigt, dass für das Thema hohes Interesse besteht. Als nächsten Schritt wolle man ein Netzwerk entwickeln, in dem sich die IT-Leiter der regionalen Firmen regelmäßig treffen.